Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Twittern im Tuk-Tuk“, welches die Abenteuer eines Europäers in Indien beschreibt. Klicken Sie hier, um mehr über das Buch zu erfahren.
Wer in das indische Pondicherry reist, der sollte auch Auroville einen Besuch abstatten. Was so klingt wie die Verballhornung alles Sektoiden in bester Simpsons-Manier ist in Wahrheit ein Versuch, der Ende der 60er Jahre gestartet wurde und bis heute andauert. Hier sollen verschiedene Völker friedlich miteinander leben; es soll spirituelle Erfüllung geben, aber keine Religion; keinen Besitz, aber eine Bereicherung des Lebenssinns durch Arbeit – Ziel ist, ein Vorbild für die gesamte Menschheit zu bilden.
Das klingt stark nach Hippie-Traum und John Lennons „Imagine“ – in Wahrheit sind meine Gesprächspartner aber alles andere als kiffende Alt-68er, sondern eifrige Geschäftsleute; es ist recht schwierig, an einem einzigen Tag alle Termine mit einander zu koordinieren. „Manchmal frage ich mich, wie sich das überhaupt ausgehen soll“, sagt mir ein österreichischer Zivildiener – sein Chef macht sich manchmal mehrere Termine gleichzeitig aus; halt so, wie es im Westen der CEO eines großen Konzerns machen würde.
Schließlich führt mich mein erster Weg doch zu Martin, dem Geschäftsführer eines Unternehmens namens „Auroville Consulting“. Ich frage ihn, was seine Firma so macht – und trete damit schon mal gleich ins Fettnäpfchen: „Das ist nicht meine Firma“, korrigiert er mich. Denn in Auroville gibt es keinen Besitz; sein Unternehmen, sein Haus und sein Einkommen gehören der Auroville Foundation, als Bezahlung für seine Arbeit erhält er – ebenso wie alle anderen, die zum Erfolg Aurovilles beitragen – jeden Monat 11.000 Rupien. Dieses Einkommen ist unabhängig von der Art der Beschäftigung, es gibt keine Angestellten und keine Arbeitsverträge. „Der finanzielle Anreiz fällt somit weg“, sagt Martin, während wir uns im Schneidersitz in einem sonnigen Innenhof gegenüber sitzen: „Daher arbeiten wir ausschließlich aus Leidenschaft für die Arbeit, die meisten hier glauben an die Vision von Auroville.“
Ob man von 11.000 Rupien im Monat wohl leben kann? „Es ist tough, denn in meinem Beruf braucht man einen guten PC, muss Fachliteratur kaufen und auf Konferenzen fahren“, sagt er mir. Es gibt aber auch einen Fonds, aus dem man Geld schöpfen kann, wenn es wirklich dringend benötigt wird – die Bedienung aus diesem erfolgt auf Vertrauensbasis. In Österreich war er fast fünf Jahre lang nicht, bis er im April 2010 kurzfristig zurückkehrte: „Da habe ich festgestellt, dass sich in der langen Zeit nicht wirklich etwas verändert hat“, sagt er grinsend. In Auroville, wo permanent an einer besseren Welt gearbeitet wird, tut sich einfach mehr.
Und die Kulturen mischen sich – allein in Martins Freundeskreis finden sich acht Nationalitäten, wie er mir erzählt. Die gesamte Community macht heutzutage mehr als 1800 Einwohner aus 35 Nationen aus, die in 80, auf zehn Quadratkilometern verstreuten Siedlungen unterschiedlicher Größe leben. Über 40 Prozent der Bewohner sind Inder, rund 15 Prozent Franzosen und elf Prozent Deutsche. Vor der Gründung Aurovilles gab es hier bloß zwei Dörfer mit rund 50 Einwohnern – und nachdem mir ein paar Wochen zuvor eine Reisende von Auseinandersetzungen zwischen den internationalen Siedlern und der lokalen Bevölkerung erzählt hatte, spreche ich Martin darauf an: „Natürlich gibt es Reibereien“, sagt er: Die lokale Bevölkerung habe etwa andere Vorstellungen zu Entwicklung; während der Westler ein Leben abseits des Konsum-Wahns rund um Shopping-Center und schwachsinnige Fernseh-Shows sucht, wünscht sich die hiesige Bevölkerung eigene TV-Geräte und Motorräder – auch Alkoholismus ist ein Thema. „Und das entspricht nicht dem Lebensstil von Auroville“, sagt Martin: „Wir müssen daher Alternativen bieten.“
So wie es Aurelio tut. Er hat in Österreich Ethnomusikologie und Musiktherapie studiert und nutzt hier das Wissen der lokalen Bevölkerung um neue Instrumente zu bauen – in seinem Shop reihen sich Klangkörper aneinander, die ich in dieser Form noch nie gesehen habe. Mit einem Monatsbudget von 500.000 Rupien hat er bisher über 30 Mitarbeiter zu Instrumentenbauern ausgebildet. „Sie waren zuerst Analphabten, nun sind sie im Management“, sagt er mit einem milden Lächeln. Während wir uns unterhalten findet ein paar Meter weiter ein Workshop zum Thema „Body Percussion“ statt – die Teilnehmer klopfen sich auf verschiedene Körperteile und machen lustige Geräusche mit ihren Mündern; Aurelios hauseigene Truthähne stimmen begeistert mit ein.
Und dann ist da noch Mauna. Sie ist Teil des PR-Teams von Auroville, und ich treffe sie zum Mittagessen. „Puh, das ist ganz schön viel Info für einen Tag“, ächze ich: „Vermutlich bräuchte ich Wochen, um das System von Auroville komplett zu verstehen.“ Denn zwischen meinen Gesprächen habe ich noch einem der Museen Aurovilles einen Besuch abgestattet – und dort mich zumindest eingelesen in die Tatsache, dass Auroville auch rund um Solarenergie, Abfallmanagement und Alternative Antriebssysteme eine Vorreiterrolle einnimmt. Mauna lächelt angesichts meines Informations-Overflows: Sie hatte mich schon im Vorfeld per Email gewarnt, dass das Projekt Auroville zu komplex ist, um es an einem einzigen Tag zu erfassen.
Sie selbst ist im Jahr 1971 hierhergekommen. Ursprünglich war sie eine Journalistin, die durch Indien reiste: „Und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich nur in Schlagzeilen denke“, sagt sie – jetzt bin ich derjenige, der lächelt; wir verstehen einander offensichtlich. Verschiedene Ereignisse reihten sich aneinander, die ihr Weltbild veränderten; und dann traf sie die Frau Aurobindos – in Auroville bekannt unter dem Namen „Mutter“ – und entschloss sich, hier zu bleiben und beim Fundraising für das Projekt Auroville zu helfen.
Ob das Projekt wohl irgendwann abgeschlossen ist? Derzeit jedenfalls noch nicht, sagt sie: Verschiedene ökonomische Systeme – etwa eine Wirtschaft ohne Geld – wurden bisher ausprobiert, aber alle hatten irgendwie ihre Macken; und so probiert die Community nach einem Trial-and-Error-Prinzip weitere Systeme aus, bis irgendwann die optimale Lösung gefunden ist. Und das kann noch lange dauern.
Wir sitzen in einer Kantine nahe ihrem Büro, und im Hintergrund sehen wir den wohl auffälligsten Erfolg von Maunas Fundraising-Arbeit: Das Matrimandir. Dieses Gebäude mit seiner riesigen goldenen Kuppel ist das geographische und spirituelle Zentrum Aurovilles. Im „Lonely Planet“ habe ich gelesen, dass in seinem Zentrum der größte makellose Kristall der Welt verborgen ist; Fremden ist der Zutritt aber verwehrt. Mauna allerdings merkt, dass ich mehr bin als ein bloßer Tourist; sondern ein Reisender, der etwas sucht, wovon er noch immer nicht weiß, was es eigentlich ist – und außerdem habe ich ihr von meiner Meditation im Ashram erzählt, die zeigt, dass ich spirituell nicht vollkommen unerfahren bin. „Du solltest daher nicht abreisen, ohne im Matrimandir meditiert zu haben“, sagt sie. Ich solle doch am nächsten Tag früh morgens wieder kommen. Das trifft sich gut, zumal ich am nächsten Tag ohnehin nach Mahabalipuram abreisen wollte und Auroville quasi auf dem Weg zwischen dort und Pondicherry liegt – ich willige also ein, fahre zurück nach Pondy und bin schon gespannt auf den nächsten Tag.