Eine Wanderung von Wien nach Mariazell gehört nicht nur für gläubige Pilgerer, sondern auch für leistungsbereite Wander-Freaks zu den tollsten Erlebnissen, die man in Wien und Umgebung sammeln kann. Die gut 120 Kilometer lange Route startet in Wien an der Endstation der Straßenbahnlinie 60 und endet im Wallfahrtsort Mariazell. Dabei führt der Weg durch drei Bundesländer (Wien, Niederösterreich und Steiermark) und bringt auch sportliche Wanderer an ihre körperlichen Grenzen. Die meisten Menschen planen für den Weg vier Tage ein, engagiertere Menschen gehen ihn in drei und ganz besonders verrückte Fußweh-Fundamentalisten spurten in nur 24 Stunden bis zum Ziel. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der viertägigen Wanderung, die per se schon anstrengend genug ist, um den typischen Wiener Hipster ordentlich herauszufordern.
Zu den Highlights der Route gehören die saftigen grünen Wiesen Niederösterreichs, rauschende Bäche und zwitschernde Vögel. Ein besonderes architektonisches Highlight ist freilich die Basilika von Mariazell am Zielort, aber auch die Araburg, in der man in der Mittagspause einkehren kann. Allerdings sind all diese Dinge ein Pipifax, verglichen mit dem eigentlichen Protagonisten der vier Tage: Der Schmerz im eigenen Körper. Wer sich zu Fuß auf den Weg nach Mariazell macht, der wird eine Pein an Körperstellen spüren, die er noch nie zuvor wahrgenommen hatte – Blasen an den Füßen sind ebenso üblich wie schmerzende Knie, und ich persönlich musste mit einem völlig unerwarteten Muskelkater in den großen Zehen kämpfen. Ich hätte niemals gedacht, dass das überhaupt möglich ist.
Wer sein Ziel erreichen will, der sollte daher auf diverse Hilfsmittel zurückgreifen und die folgenden Ratschläge beherzigen.
Vorbereitung
Folgende Dinge sollten auf jeden Fall vor Antritt der Reise berücksichtigt werden:
- Fixe Zusagen der teilnehmenden Wanderer: Nur wer in guter körperlicher Verfassung ist, sollte sich selbst diese mehrtägige Wanderung zumuten. Möglichkeiten zum Üben findet Ihr unter diesem Link
- Unterkünfte buchen: Bedenkt, dass gerade an verlängerten Wochenenden mit katholischen Feiertagen viele günstig gelegene Herbergen rasch ausgebucht sind
- Besorgt Euch Kartenmaterial – auch auf Papier, falls der Akku Eures Smartphones sich im Lauf der Wanderung verabschieden sollte
Auf eine komplette Packliste möchte ich an dieser Stelle verzichten – es sei aber gesagt, dass generell gilt: Je weniger man einpackt, desto weniger muss man tragen.
Ein T-Shirt, eine leichte Hose und ein paar Flip-Flops reichen als Abendkleidung für die Unterkünfte locker aus, als Tagesbekleidung sollten Wander-Shirts, Wander-Hose, Wander-Schuhe, Wander-Socken, eine Regenjacke und (optional) ein Regenponcho eingekauft werden. Wer Knieprobleme hat, der wird während dieser vier Tage seine Wanderstöcke zu seinen neuen besten Freunden zählen.
Überflüssig zu erwähnen, dass auch Handy oder Smartphone nicht fehlen darf – wer seine Wanderung per GPS aufzeichnen will, der sollte einen (nicht zu schweren) portablen Akku mitnehmen. Plastiksackerl in verschiedenen Größen schützen den Inhalt des Wanderrucksacks vor dem Regen, der mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens einmal Euren Weg kreuzen wird.
Oh, und das Wichtigste: Wasserflaschen. Ihr werdet trinken wollen. Und zwar viel. Und auch kleine Snacks für zwischendurch sollten in Eurem Gepäck nicht fehlen. Wer seine Füße mit fettiger, ekliger Hirschtalgsalbe einschmiert, reduziert die Gefahr von Blasen – für den Fall, dass der Hirsch versagt, sollten dennoch auch Blasenpflaster im Gepäck nicht fehlen.
Während der Wanderung
Wisst Ihr, wie man richtig geht? Ja? Seid Ihr Euch sicher? Wer diese 120 Kilometer zurücklegt, der lernt seinen Körper auf eine neue Art kennen – und ein entscheidender Knackpunkt dabei ist, das energieschonende Gehen zu erlernen. Dazu gehört:
- Beim Bergaufgehen den Fuß mit seiner gesamten Fußfläche aufsetzen
- Beim Bergabgehen die Knie anwinkeln, um sie nicht zu sehr zu belasten
- Die Wanderstöcke verwenden, wo es nur geht: Beim Bergabgehen zum Schutz der Knie – beim Bergaufgehen verwandeln sie sich in zwei zusätzliche Beine, die Euren zwei biologischen Beinen die Arbeit abnehmen
In punkto Kulinarik werden Wiener Hipster für die besagten vier Tage auf ihre Frappuccinos, Frozen Joghurts und Craft Biere verzichten müssen – dafür laufen sich andere kulinarische Highlights gegenseitig den Rang ab, wie etwa der Schweinsbraten, der Hirschbraten und Kaffee mit frischer Milch von echten Kühen.
Die Route
Wie gesagt ist die Route ein 120 Kilometer langer Track von Wien nach Mariazell, der durch drei Bundesländer führt – den Startpunkt erreicht Ihr, indem Ihr mit der Straßenbahnlinie 60 bis zur Endstation Rodaun fahrt. Ab dann seid Ihr auf Euch alleine gestellt.
Tag 1
Am ersten Tag legen wir etwas mehr als 32 Kilometer zurück, die Steigungen sind mehr oder weniger verkraftbar. Enden tut die erste Etappe in Klein-Mariazell. Ein guter Teil der Strecke führt uns durch den Wienerwald. Nach rund 16 Kilometern erreicht man Heiligenkreuz, das vor allem für sein beeindruckendes Stift bekannt ist. Gleich hier gibt es auch ein Restaurant, in das Wanderer einkehren können – sofern sie nicht zu sehr stinken, beziehungsweise das gesamte Lokal ausgebucht ist. Sollte dem so sein, gibt es ein paar Kilometer weiter im geschichtsträchtigen Ort Mayerling ebenfalls Lokale, in denen man einkehren kann. Am Nachmittag geht es noch ein paar Mal bergauf und bergab, und schon ist man am Ziel: Klein-Mariazell, wo wir die Nacht verbringen – alles halb so wild, richtig?
Tag 2
Willkommen in der Welt der Schmerzen. Wer sein Leben hauptsächlich als Office-Drohne in der Großstadt verbringt, der spürt am zweiten Tag beim Aufstehen, dass er sich am Vortag bewegt hat. Ein übler Muskelkater wird begleitet von den ersten Blasen an den Füßen. Doch genug gejammert: Nach einem kräftigenden Frühstück beim Kirchenwirt machen wir uns auf den Weg, der uns durch Wälder und Wiesen und an Dörfern vorbei führt, bis wir nach einem Anstieg die Ruine der Araburg erreichen – eine gute Gelegenheit zum Mittagessen. Die dort neu getankte Kraft können wir auch gleich wieder verwenden, denn uns erwartet das Kienneck (nicht zu verwechseln mit der Kinect), welches wohl auf der gesamten Wanderung das Stück mit der heftigsten Steigung ist. Über längre Zeit geht es steil bergauf, nach kurzen Stellen auf der Ebene folgen weitere Steigungen – der blanke Wahnsinn. Doch immerhin: Wer sich im richtigen Moment herumdreht, kann weit unter sich die Araburg erkennen – und sich freuen, dass er so an hoarter Hans ist.
Wir haben gleich nach dieser harten Steigung die Nacht auf der Enzianhütte verbracht, wo wir auf eine lustige Wirtin trafen und mit einem traumhaften Sonnenuntergang belohnt wurden. Wer es sich aber zutraut, der kann den Abstieg wagen und zum Beispiel in Rohr im Gebirge oder der Kalten Kuchl übernachten.
Tag 3
Gestern war der Tag der Höhenmeter, heute ist der Tag der Kilometer: Wer in der Enzianhütte übernachtet hat, der muss heute rund 38 Kilometer bis nach St. Aegyd gehen – ansonsten hat er keine Chance, Mariazell zu erreichen. Es gibt keine Möglichkeiten, diese Sache schön zu reden: Die Füße werden Euch schmerzen, und jedes andere Körperteil auch. Das Schlimmste ist wohl der Teil der Strecke, der sich nach dem Ortsschild von St. Aegyd befindet: Denn Wanderer fühlen sich dann vielleicht bereits in Sicherheit, müssen aber noch den Marsch in den Ortskern antreten – und das dauert eine weitere halbe Stunde Schmerzen nach einem Tag, der ohnehin schon sehr lange gedauert hat.
Davor gibt es freilich ein paar schöne Momente. Etwa passiert man am Vormittag die Unterberghütte, in der manche Wanderer ihren Schmerz mit einem morgendlichen Bier zu bekämpfen versuchen. Danach folgen Rohr im Gebirge und die Kalte Kuchl – diese bietet sich zwar als Ort zum mittaglichen Einkehren an, ist allerdings oft mit Motorradfahrern überlaufen. Reservieren ist hier eine gute Idee, mit langen Wartezeiten sollte aber auf jeden Fall gerechnet werden. Nach der Kalten Kuchl durchstreift Ihr das Finstertal, das in punkto Eintönigkeit kaum noch zu überbieten ist – aber wenigstens gibt es ein paar lustige haarige Kühe zu sehen.
Rechnet damit, dass Ihr nach über zehn Stunden Gehzeit am Abend dem Wahnsinn nahe seid. In manchen Kreisen nennt man das auch Erleuchtung, glaube ich.
Tag 4
Ihr habt es fast geschafft – bloß noch ein einziges Mal knapp 40 Kilometer zurücklegen. Manche Wanderer ächzen heute über besonders starke Schmerzen, andere spüren ihren Körper überhaupt nicht mehr und sind nach Eigenangabe nur noch Sphärenwesen, deren Astralkörper in Richtung Basilika schwebt – die fleischliche Hülle wird gezwungenermaßen hinterhergeschleppt. Die Steigung ist heute verkraftbar (genau genommen ist nach der Hölle von Kienneck jeder weitere Hügel ein regelrechter Klacks) – allerdings führen große Teile des Weges über Asphalt, was deutlich unangenehmer ist als die gewohnten Waldwege. Die perfekte Einkehr für das Mittagessen ist die Wuchtelwirtin, denn sie hat die dicksten Wuchteln. Danach folgt ein schöner See – den man aber ohnehin kaum mehr wahrnimmt, weil man nur noch das Ziel vor Augen hat: Mariazell.
Beim Einlaufen in die heilige Stadt passieren Wanderer die „Tanzbar Namenlos“ – Nerds, die mit dem Götterkanon von „Das Schwarze Auge“ vertraut sind wissen, warum das lustig ist. Es folgen weitere Skurrilitäten und eine gnadenlose Reizüberflutung. Schließlich erreicht man irgendwann die Basilika, beendet das GPS-Tracking und darf sich selbst nun offiziell Pilgerer nennen.
Das Eis beim Pirker schmeckt ausgezeichnet. Das WC befindet sich im ersten Stock.
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[…] 1. Mai 2016 […]