Anfangs wirkt immer Alles so westlich: An den Bahnsteigen der U-Bahn in Delhi reihen sich die Fahrgäste brav aneinander; und das erinnert stark an die englische Ordnung. Überall stehen auch Schilder, dass man nicht rauchen, fotografieren oder spucken darf. Und Wärter mit Trillerpfeifen marschieren die Gleise entlang, um Männer an ihren Platz zu verweisen, wenn sie an den Einstiegsstellen von Waggons stehen, die eigentlich für Damen reserviert sind – ebendiese Einstiegsstellen sind auch mit rosafarbenen Schilder markiert; Frauen sollen in den U-Bahnen nicht belästigt werden.
Dann fährt der Zug ein. Und Indien bricht aus.
Plötzlich fangen jene Menschen, die sich noch Sekunden zuvor brav in eine Reihe gestellt haben, zu schubsen und zu drängeln an; die Reihen lösen sich auf und verwandeln sich in Wülste aus Menschen, die sich durch die Tür drängeln – „Bitte zuerst aussteigen lassen“, steht an der Tür; aber das ist wurscht. Jeder will als Erster in der Bahn sein, denn dort gibt es ein rares Gut: Die Sitzplätze.
Die Sitzgelegenheiten befinden sich nämlich nur entlang den Flanken der Bahn, weshalb die meisten Fahrgäste stehen müssen. Dass zwar manche Plätze reserviert sind für Damen oder Menschen mit Behinderungen, ist somit hinfällig – im Kampf um die Gesäßmuskelentspannung werden diese Sitzflächen ebenfalls von jungen, agilen Männer okkupiert. Der unwissende Westler versteht das System anfangs nicht, gibt sich dem Fatalismus hin – erkennt aber irgendwann: Jede neu Station ist ein Neuanfang, eine neue Chance. Denn steht jemand von seinem Platz auf, so stürzen sich die anderen Fahrgäste wie die Aasgeier (und, um mich gleich von Vorwürfen frei zu sprechen: Ich selbst nehme mich von diesem Vergleich nicht aus) auf die neu entstandene Sitzfläche.
Delhis U-Bahn, ja, die kann exemplarisch gesehen werden: Für ein Land, das wunderschöne Gesetze und Regeln hat. Die aber kaum jemand befolgt. Weil man halt flexibler ist. Andere Länder, die mögen vielleicht diskutieren, ob ein „Code Law“ (Gesetze, nach denen jeder funktionieren muss) oder ein „Case Law“ (Anlassgesetzgebung) das bessere System ist – in Indien stellt sich die Frage nicht: Wenn sich eine Möglichkeit – wie etwa ein freier Sitzplatz – ergibt, dann wird sie spontan ergriffen; ebenso wie man sich flexibel an Probleme anpasst. Ein bisschen hat das wohl auch mit dem Hinduismus zu tun – aber das ist eine andere Geschichte, die ich später erzählen werde.