Eine indische Hochzeit ist kein Zuckerschlecken (auch wenn es verdammt viel Süßes zu essen gibt) – sondern ein Drama, das sich in mehreren Akten abspielt. Und dementsprechend möchte ich mein erstes Erlebnis dieser Art an dieser Stelle in klassisch dramatischer Form darstellen.
Prolog
Der Wolf und ich waren auf die Hochzeit eines Freundes eingeladen. Obwohl, nein, eigentlich stimmt das so nicht: Der Bruder eines Freundes des Wolf hat geheiratet; und weil in Indien die Wichtigkeit einer Hochzeit direkt mit der Anzahl der Gäste korreliert, war ich freilich auch herzlich willkommen. Der Freund eines Freundes des Bruders also. Aber Freunde, so fand ich später heraus, sollte ich zu diesem Anlass noch finden.
Ort der Handlung: Gujarat. Ein Bundesstaat im Nordwesten Indiens, der so ganz anders ist als der Rest des Landes – man bezeichnet G. gerne als das „Deutschland Indiens“, allerdings hinkt der Vergleich: Zwar ist – so wie in meinem Heimatland – ein großer Batzen an Industrie dort angesiedelt, aber auf der anderen Seite ist Fleisch verpönt und Alkohol verboten. Jedem Liebhaber vom Weißwurst und Bier stellt es da die Haare auf. Also, sagen wir mal lieber: G. ist der Ruhrpott Indiens. Mit Bayern hat das herzlich wenig zu tun. Klar ist aber: Geld haben sie weit mehr als der Rest des Landes; und entsprechend wird dann wohl eine Hochzeit in G. sehr westlich und zivilisiert sein, oder? Denkste.
Erster Akt: Tagelang tanzen.
Als wir mit dem Bus in der Stadt ankommen, werden wir an der Haltestelle abgeholt von einem freundlichen jungen Inder, der ein T-Shirt mit Wolf-Motiv trägt. Ich überlege kurz, ob ich zwecks Eis-Brechung einen blöden Witz machen soll – etwa über die Ironie, dass ein Inder ein T-Shirt mit indianischen Motiven trägt -, überlege es mir dann aber anders: Witze sind ein interkulturelles Minenfeld; und außerdem gibt es gar kein Eis, das man brechen müsste, der denn junge Herr lächelt ohnehin schon: „Man wartet bereits auf Euch“, sagt er. Wir fahren per Auto zum Haus des Bräutigams.
Dort ist der Eingangsbereich in einer Farbkombination dekoriert, die meinem Kunstlehrer in der Schule die Haare aufgestellt hätte: Weiß trifft Rot trifft Pink trifft Dunkelblau. Und ein paar Meter weiter: Eine Meute aus tanzenden Indern – vom fünfjährigen Mädchen bis zum 60jährigen Opa. Man empfängt uns mit Jubel, und wir wackeln ungelenk zu indischem Pop, während ein Onkel kommt und mit Geldscheinen über unseren Köpfen wedelt, um das Papiergeld daraufhin vor einem Schrein abzulegen.
So geht das stundenlang. Stundenlang? Nein, länger: „Wir tanzen bereits seit drei Tagen“, sagt ein Neffe von Irgendwem. Na servus. Der Bräutigam? Der tanzt auch mit. Und die Braut? Ist nirgends zu sehen. Irgendwann sagt mir der Freund des Freundes, dass die Party heute – am Vorabend der eigentlichen Trauung – aber nicht allzu lang dauert; denn immerhin geht am nächsten Tag ja schon um 11 Uhr los. Ich freue mich also auf eine frühe Bettruhe nach einer langen Anreise aus Delhi – was sich als naiver Irrtum heraus stellen sollte.
Zweiter Akt: Die Herrenrunde
Wie bereits anfangs erwähnt, ist Alkohol in Gujarat verboten. Auf dem Schwarzmarkt ist es aber dennoch zu haben, und der Freund meines Freundes – der B rudes des Bräutigams – hat 100 Dosen Kingfisher-Bier um 100 Rupien das Stück gekauft (Normalpreis sind 70 Rupien). Also werden die Männer zu dem eingeladen, was Männer wohl am Besten können: Trinken.
Gemeinsam begeben wir uns in ein anderes Haus, wo hinter uns die Tür geschlossen wird; hinauf in ein kleines Zimmer, wo sich die Herren der Schöpfung im Kreis auf Kissen setzen, die auf dem Fußboden liegen. Knabbereien werden gebracht, ebenso wie Bier. Es ist warm. Außerdem gibt es Sekt, ebenfalls warm. Becher gibt es keine; deshalb geht der Bräutigam noch ins Geschäft um die Ecke, um welche zu kaufen.
Ein mir gegenüber sitzender Mann rülpst: „Rülps.“
Der Herr neben mir bestätigt: „Rülps, Rülps.“
Man plaudert; der Freund des Freundes erzählt etwas auf Hindi, es fallen die Wörter „Journalist“ und „Freelancer“, und wir gehen davon aus, dass man über uns spricht.
„Rülps“
Links von mir sitzt ein älterer Herr, dessen Fingernagel am kleinen Finger eine beachtliche Länge von rund acht Zentimetern misst – reiche Menschen machen so etwas, um zu zeigen, dass sie nicht mehr körperlich arbeiten müssen. Als die Becher schließlich kommen, werden wir aufgefordert, den Sekt zu öffnen – und was ich nun beschreibe, klingt nach billigem Slapstick, hat sich aber tatsächlich so zugetragen: Die Flasche war zu viel geschüttelt worden, der Korken löst sich mit einem Knall und der Inhalt entleert sich – allgemein im ganzen Raum, und ganz besonders auf den Herrn mit dem langen Fingernagel.
Uns ist das peinlich. Jemand kommt gleich, um den verräterischen Alkohol aufzuwischen. Der Langfingernagel verlässt den Raum, um sich abzuwischen. Jemand anders rülpst respektvoll. Kurz darauf kehrt der Langfingernagel zurück; und ich frage ihn, ob er nun Ärger mit seiner Frau kriegt, weil er nach Alkohol stinkt. Er lächelt: „Nein, kein Problem.“ Der Freund des Freundes ermahnt uns allerdings immer wieder, nicht zu laut zu sein – wenn die Nachbarn merken, dass hier Alkohol getrunken wird, ist der Ruf vollkommen ruiniert.
„Rüüülps.“
Nachdem Jeder eine Dose getrunken hat, kommt die Gujarater Herrenrunde so richtig in Fahrt. Wir werden immer wieder gefragt, woher wir kommen, wie wir heißen und was wir so machen. Und, ob wir Indien mögen. Wie immer beantworten wir auch diesmal die Fragen – bis irgendwann der Blick auf unsere Handys fällt, und man sie gerne betrachten möchte. Gleich wird bei der Begutachtung meines Telefons der integrierte mp3-Player geöffnet und das einzige darauf gespeicherte Lied abgespeilt: „Scenic World“ von Beirut. Dazu ein bestätigendes Rülpsen.
Eigentlich, so denke ich mir, sind die Partys am anderen Ende der Welt auch nicht anders als bei mir zuhause: Man sitzt herum, trinkt lauwarmen Alkohol, verschüttet die Hälfte und spielt mit den Handys des Gesprächspartners. Das finde ich sehr verbindend – und rülpse anerkennend.
Dritter Akt: Sie trauen sich
Am nächsten Morgen werden wir vom Hotel abgeholt – der junge Herr im Wolfs-Shirt hat sich umgezogen – und zum Haus der Bräutigams-Familie gefahren. In den letzten Stunden seines Junggesellendaseins ist er in ein glitzerndes Gewand gekleidet, und die Hochzeitsgesellschaft wartet gespannt – auf die Reise zum Ort der Hochzeit.
Denn dann fährt ein LKW vor, auf dem sich eine DJ-Anlage befindet. Die Lautsprecher auf dem Gefährt dürften rund vier Meter hoch sein; und oben drauf sitzen junge Männer, die mit Ästen tief hängende Hochspannungsleitungen anheben, so dass sie Multi-Millionen-Watt-Musikmaschine sich ihren Weg durch die holprigen Straßen bahnen kann. Und dann wird der Hindi-Pop gestartet, es wummert wie wahnsinnig.
Ich tanze gerne; solche Gelegenheiten lasse ich so gut wie nie aus. Auch nicht, wenn es auf einer staubigen Straße ist, die Sonne herunter brennt, es rund 35 Grad Celsius hat, um mich herum der Wahnsinn ausbricht und ich den Text der zahlreichen Songs gar nicht kenne – es ist egal. Da ich mich im Tanzstil auch gerne anpasse, ahme ich die Bewegungen der anderen Männer nach – ein Konditor, der zudem ein anderer Bruder des Freundes des Freundes (und somit auch ein Bruder des Bräutigams) ist, erkennt meinen Enthusiasmus und bringt mir einzelne Handbewegungen und Schritte bei – ich gebe mir Mühe, sie so gut wie möglich nachzuahmen. Die Inder haben Spaß mit mir; lachen mich an und kratzen sich tanzend unter den Achseln, ahmen einen Affen nach – äffen sie mich nach? Ich habe Durst, und außerdem viel Spaß.
Als wir nach der lautstarken Parade durch die Nachbarschaft am Ort der Hochzeit ankommen, gibt es Wasser zu trinken. Und dann was zu essen. Und dann? Dann verteilt sich die Gesellschaft. Ein paar Leute essen noch weiter, solange etwas da ist; wieder andere legen sich in separaten Räumen auf Matratzenlager – dort schläft die ältere Generation den Tanzrausch aus, während die Kinder um sie herum tollen. Ein kleinerer Trupp aus ausgewählten Herren hat es sich im klimatisierten neuen Auto des Bräutigams bequem gemacht und hört Musik. Und die Braut ist übrigens auch schon da, die Trauung findet statt – aber dieser Nebensächlichkeit schenkt nach drei Tagen Party kaum jemand Beachtung.
Vierter Akt: Im Blumen-Wunderland
Am Abend gibt es wieder Party. Nicht irgendwo, sondern in einer Parallel-Dimension: Eine gewaltige Fläche wurde mit Tüchern in den bereits erwähnten Farben umspannt. Zusätzlich gibt es ein ganz besonderes Schmankerl: Stoffblumen überall mit einem Blütendurchmesser von jeweils rund einem Meter, die man drehen kann. Überall. Und dann die Farben, und die Menschen. Es fühlt sich ein bisschen an wie „Alice im Wunderland“, aber mit noch ein wenig ärgeren Drogen. „Weißt Du, wenn Indien sein Wirtschaftswachstum so fortsetzt“, sage ich zum Wolf: „Dann werden die in hundert Jahren wohl gewaltige Raumschiffe im Still des Raumschiff Enterprise bauen, aber mit grellen Farben und Blumen überall.“ Die Rekation der Vulkanier beim ersten Kontakt stelle ich mir sehr erheiternd vor.
Dann werden wir zu Fototerminen gebeten. Jeder will mit uns fotografiert werden, vor allem die Kinder. Wenn ich heim komme nach Wien, dann werde ich meinen gesamten Freundeskreis mit Fotos quälen, auf denen ich mit niedlichen Kindern zu sehen bin. Und außerdem haben wir wieder Fragen beantwortet: Wie wir heißen, wo wir her kommen, ob wir Indien mögen.
Und getanzt habe ich auch. Freilich nur mit den Männern, die Frauen werden außer Reichweite gehalten. Den meisten Spaß habe ich auf der Tanzfläche wieder mit dem Konditor, dem Bruder des Freundes des Freundes und Bruder des Bräutigams. Er bringt mir noch ein paar fetzige Hüftschwünge bei, mit denen ich in Bollywood bald Karriere machen könnte. Ich bedanke mich lachend bei ihm und sage ihm, dass er ein guter Lehrer ist. „Ich bin nicht Dein Lehrer“, sagt er in holprigem Englisch: „Ich bin Dein Freund.“
Epilog
Am nächsten Tag die Abreise. Der Bräutigam lächelt milde, er sieht glücklich aus. Wir verabschieden uns von allen – vor allem vom Freund des Freundes, der jetzt auch mein Freund ist. Ich lade ihn und seine reizende Frau nach Wien ein und freue mich schon auf den Besuch. Ich hatte viel Spaß während der vergangenen Tage, habe viel gelernt und nette Menschen kennen gelernt. Und, ach ja: Gut gegessen habe ich natürlich auch.
Rülps.